Auf – in eine neue Heimat

von Günther Faust

Aufbruch

Am 24. Oktober 1955, einen Tag nach dem Referendum (Volksentscheid) der wahlberechtigten saarländischen Bevölkerung über den politischen Anschluss des Saarlandes an Frankreich, fuhren meine Frau, unser kleiner Sohn und ich in Richtung Siersdorf.
Dort, so unsere Lebensplanung, wollten wir uns eine neue Heimat schaffen.

Gründe

Wir waren erst zehn Monate verheiratet. Meine Frau (18) gebar unser erstes Kind vor knapp einem halben Jahr.
Nachdem wir im Dezember 1954 geheiratet hatten, suchten wir für uns eine unabhängige Bleibe. Zunächst aber hatten wir bei meinen Eltern ein Zimmer. Unter der mehr oder weniger großen Aufsicht meiner Eltern und meiner jüngeren Geschwister spielte sich unser junges Eltern- und Eheglück ab. Die Küche musste sich meine Frau mit meiner Mutter teilen.
Aus dieser Enge wollten wir heraus. So kam ein Anfang August 1955 eintreffender Brief meiner älteren Schwester, in dem sie uns die Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten in und um Siersdorf herum schilderte, für uns zur rechten Zeit.
Meine Schwester war ihrem Mann, der schon seit Januar 1955 auf der Grube Emil Mayrisch als Maschinenschlosser arbeitete, mit ihren Kindern im Juli nachgezogen. Sie schrieb mir, dass es in den Bergwerksgemeinden im Aachener Raum genügend Arbeit für Bergleute gäbe und dass für zureisende Bergleute Wohnungen errichtet würden. Gute Arbeit hatte ich ja, aber keine ausreichende Wohnung für meine Familie.

Initiativen

Kurz entschlossen nahm ich mir bei meinem Arbeitgeber - ich war gelernter Bergmann und arbeitete schon im zehnten Jahr auf einer saarländischen Grube - vier Tage Urlaub und fuhr nach Siersdorf. Mein Schwager holte mich am Aachener Hauptbahnhof ab. Er lotste mich quer durch die Innenstadt bis zum damaligen Busbahnhof an der Peterstraße. Von dort ging es dann mit dem Bus nach Siersdorf. Bei meiner Schwester übernachtete ich. Montags, es war der Tag nach meiner Ankunft, fuhr ich zur Hauptverwaltung des Eschweiler Bergwerks-Vereins (EBV) nach Kohlscheid. Dort stellte ich mich vor und erkundigte mich, ob der EBV mich anlegen würde; die Antwort war ja. Mir wurde gesagt, dass im Falle eines Arbeitsvertrages für mich und meine Familie zunächst eine Notunterkunft in Siersdorf bereitgestellt würde. Als frühest möglicher Antrittstermin wurde der 2. November verabredet. Schließlich war ich zu Hause bei meinem Arbeitgeber - der "SAARGRUBEN-AKTIENGESELLSCHAFT" unter der "RÉGIE DES MINES DE LA SARRE" - in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis. Am folgenden Montag nach meiner Rückkehr - also eine Woche später - ging ich zu meinem Arbeitgeber und bat diesen um eine einvernehmliche Kündigung zum 31. Oktober. Am 20. Oktober wurde mein Arbeitsverhältnis mit Wirkung zum 31. Oktober 1955 von den "Saarbergwerken" aufgelöst. Mir standen noch ein paar Tage Urlaub zu, sodass ich ab dem 20. Oktober nicht mehr auf meiner Arbeitsstelle erscheinen musste. Ich teilte dem EBV umgehend mit, dass ich die Arbeit zum 2. November 1955 antreten könnte. Man schrieb mir zurück, dass ich auf der Grube Emil Mayrisch ab dem 2. November 1955 angelegt werden könnte und dass ab 24. Oktober eine Notunterkunft für uns in Siersdorf bereit stünde.
Es galt jetzt den Umzug zu organisieren. Ein Freund meiner Eltern war bereit, meine Familie und mich mit unserem Hab und Gut - ein eisernes Bettgestell, die dazugehörige Matratze, ein Federbett, einen Tisch, vier Stühle, etwas Bett-, Haushalts-, Körper- und Babywäsche, ein Kinderwagen aus xter Hand und eine "elektrische Koffernähmaschine" - nach Siersdorf zu bringen.
Alles das wurde zusammen mit uns in einen Tempo-Dreirad-Kastenwagen gezwängt, und ab ging's.

Reise und Ankunft

Unterwegs, irgendwo in der Eifel, kehrten wir zu einer Rast in ein Gasthaus ein. Nach dem Windelwechsel bei unserem Sohn und nach einer kleinen Mahlzeit ging es weiter. Mehr tot als lebendig kamen wir nachmittags in Siersdorf an. Das Auto hatte eine Undichtigkeit an der Abgasanlage. Es war uns allen schlecht; es hätte Schlimmeres passieren können. Nun waren wir da. Am nächsten Morgen ging es unserem kleinen Jungen und mir leidlich gut, meine Frau aber musste sich mehrmals heftig Erbrechen; sie war wieder schwanger.

Anfang

Am 2. November nahm ich meine Arbeit auf Emil Mayrisch auf. Für mich begann damit der mir bekannte Berufsalltag. Meine Frau litt sehr unter der Enge der Notunterkunft. Es war uns mitgeteilt, dass wir in der ersten Hälfte des kommenden Jahres ein Dreizimmerwohnung mit Küche und Bad bekämen.

Verständigungsschwierigkeiten

An den Dialekt, der von der Mehrzahl der Menschen um uns herum gesprochen wurde, konnte ich mich nicht gewöhnen; für mich klang es wie holländisch; bis heute habe ich damit meine Probleme.

Geschäftemacher

Die dürftige Ausstattung der Notunterkunft (eiserne Spinde und Bettgestelle) verführte uns, über einen "Vermittler" ein Schlafzimmer und ein Radio auf Abzahlung zu kaufen. Eiche musste es beim Schlafzimmer sein, wenn auch nur in Furnier. Für uns war es zunächst eine Anschaffung fürs "Leben".
Die damaligen Geschäftemacher waren mit den Kreditzinsen und Gebühren nicht zimperlich. Das Schlafzimmer kostete 1474,00 DM und das Radio 424,00 DM. Zusammen mit den Zinsen hatten wir 2077,20 DM - das waren vier Netto-Monatseinkommen - zu bezahlen. Mein Nettoeinkommen betrug in dieser Zeit etwa 520,00 DM pro Monat. Bei 18 Monaten Kreditlaufzeit waren - abzüglich einer Anzahlung von 248,00 DM - eine erste Rate von 129,20 DM und 17 Raten à 100,00 DM fällig; 14,4% Effektivzinsen wurden uns dabei abverlangt. Die erste Rate war am 25. November 1955 fällig.
Noch weniger zimperlich mit den Zinsen ging ein Geschäft im Ort um. Beim Kauf eines Zimmerofens (169,00 DM) im Jahr 1956 mussten wir mit 22,35% (noch belegbar) die höchsten Zinsen zahlen, die wir je bei einem Ratenkauf zu bezahlen hatten. Der Begriff Effektivzins war zu dieser Zeit im Kreditgewerbe jedoch nicht bekannt.
Das Schlafzimmer haben wir später verschenkt. Noch heute wird darin geschlafen. Damit ist es wirklich zu einer Anschaffung fürs Leben geworden. Auch der damals aus der alten Heimat mitgebrachte Tisch und die Stühle leben noch; sie müssen sich aber mit dem Keller als Standort begnügen.

Besuch

An Weihnachten besuchten uns die Eltern meiner Frau. Meine Frau lag zu dieser Zeit mit einer Fehlgeburt in einem Zehnbettzimmer im Bardenberger Krankenhaus. Vielleicht waren es die Anstrengungen und die Zustände während des Umzuges. Mein Schwiegervater sagte zwar nichts, aber ich fühlte seinen stillen Vorwurf, dass ich seine Tochter so kurz nach der Geburt unseres Sohnes wieder geschwängert hatte. Er konnte seine Tochter nur im Krankenhaus besuchen.

Abschied vom Vater

Es war das letzte Mal, dass wir ihn und er uns sah. Zwei Monate später starb er, 58-jährig. Meine Frau litt unter dem Tod ihres Vaters sehr. Er war für sie Inbegriff des Mannes, den sie sich wünschte. Wir fuhren zu seiner Beerdigung nach Hause; in uns mit dem Schuldgefühl, ihm mit unserem Wegzug aus der angestammten Heimat das Herz gebrochen zu haben.

Das Leben geht weiter

Unser Leben lief in diesen Tagen sehr unruhig ab. Meiner Frau fiel die Eingewöhnung schwer. Trotz ihrer Mühen um unseren kleinen Sohn und um mich, war sie einsam. Ich hatte ja meine Arbeit, die mir gefiel und mich ausfüllte. Nur der ständige Wind, der die schwarze Asche des Zechenplatzes in Wirbeln hochtrieb, ging mir auf die Nerven. So war ich froh, wenn ich unter Tage oder zu Hause war.
Die Hoffnung auf einen möglichst frühen Umzug in eine normale Wohnung, drängte die Trauer meiner Frau um ihren verstorbenen Vater etwas in den Hintergrund; es ging bergauf. Für die zweite Aprilwoche war uns eine Wohnung in Aldenhoven zugesagt. Eigentlich sollte meine Schwester diese Wohnung bekommen, sie und ihre Familie waren ja auch schon länger hier. Mein Schwager verdiente aber weniger als ich; er und meine Schwester verzichteten daher zu unseren Gunsten auf die ihnen zugedachte neue Wohnung.

Tücken des Berufs

Es schien alles im Lot zu sein. Da kam am 29. März 1956 der "schwarze" Donnerstag. Eigentlich war es der Gründonnerstag. Ich war zur Mittagschicht (Spätschicht) in einem Streb (Ort an dem die Kohle abgebaut wird) in Flöz U eingeteilt. Der Streb war in der Mitte um geschätzte 10 -15 m (oder mehr?)gegenüber den Strebeingängen der Fuß- und Kopfstrecke vorgesetzt. Die über die Fußstrecke zuströmenden Frischwetter (unverbrauchte Luft) zogen durch den Alten Mann (nicht mehr ausgebauter, zurückliegender ausgekohlter Strebraum) zur Kopfstrecke. Besonders in der Strebmitte strichen kaum noch Frischwetter am Kohlenstoß vorbei. Ohne dass wir einen Finger zu rühren brauchten, brach uns der Schweiß in Strömen aus. Schon bald lief die Parole durch den Streb: Wir fahren aus! Wer wollte sich der Parole widersetzen. Ich konnte es schon deshalb nicht, weil ich erst 5 Monate in der Kameradschaft war und nicht als "Streikbrecher" gelten wollte. Im schlimmsten Fall konnte uns für das Verlassen des Arbeitsortes Arbeitsverweigerung vorgeworfen werden. Diese konnte mit fristloser Kündigung geahndet werden.
An diesem Tag war alles gegen uns. Nach der Ausfahrt versuchten wir mit dem Betriebsrat oder mit einem zuständigen "Oberbeamten" in Kontakt zu treten, um diesen unsere Gründe für das Verlassen des Arbeitsplatzes anzugeben. Doch wir erreichten niemand. An diesem Nachmittag wurde ein durch einen Verkehrsunfall zu Tode gekommener Diplomingenieur in Siersdorf zu Grabe getragen. Also gingen wir mit der Absicht nach Hause, am Ostersamstag - da wurde noch samstags gearbeitet - zur Frühschicht zu erscheinen und die Angelegenheit zu regeln.
Die Sache hatte sich schon geregelt: Mit mir waren 18 Bergleute fristlos entlassen.

Ängste

Meine Frau und ich hatten vor meiner Entlassung für den 11. April schon alle Vorbereitungen getroffen, um nach Aldenhoven umzuziehen. Und daraus sollte jetzt nichts werden? Die Ereignisse führten bei uns zu schlimmer Existenzangst; arbeitslos und noch 1300,00 DM Schulden. Es gab nur eins: Einen Kanossagang zum Bergwerksdirektor.
Am 3. April (Osterdienstag) lieh ich mir vom Hausmeister der Notunterkunft ein Fahrrad und fuhr nach Kohlscheid, um den damaligen Bergwerksdirektor Dr. Gremmler - dieser war von der saarländischen Grube Luisenthal zum EBV gekommen - zu bitten, die fristlose Kündigung für die betroffenen 18 Bergleute - von der ja auch deren Familien betroffen waren - aufheben zu lassen.
Es war nicht nur der Herzogenrather Berg - in Richtung Kohlscheid - der meinen Puls auf meinem Bittweg hoch trieb, es war auch das mir bevorstehende Zusammentreffen mit meinem "mächtigsten" Vorgesetzten.
Aber dann ging alles verwirrend schnell. Angekommen, angemeldet und vorgelassen; der Weg von der Tür bis zum Schreibtisch des Bergwerks-Direktors war lang, sehr lang. Während ich mich bemühte, ihm die Umstände zu schildern, die zu unserem Verhalten führten, kam ein Anruf. Teilen des Gesprächs konnte ich entnehmen, dass es auf der Grube Emil Mayrisch in der 1. östlichen Richtstrecke der 710 m-Sohle zu einem Bläser (zu hörender und zu fühlender heftiger Gasausbruch) gekommen war. Der Bergwerksdirektor wandte sich mir zu und sagte ohne das Telefonat beendet zu haben: "Melden sie sich morgen früh bei ihrem Personalbüro" und entließ mich.
Noch am gleichen Tag bin ich zur Grube gefahren und habe dem einen oder anderen Betroffenen - einige versuchten die fristlose Kündigung bei den Zuständigen der Grube rückgängig zu machen - von dem Ergebnis meines Gesprächs zu berichten. Ob die Kameraden etwas erreicht haben, weiß ich nicht mehr. Wegen des "Bläsers" hatte man auf Emil Mayrisch an diesem Tag andere Sorgen.

Zum Guten gewendet

Am anderen Morgen versammelten wir uns beim Personalbüro. Es wurde uns mitgeteilt, dass wir - nach meinen Erinnerungen bis auf einen - unsere Arbeit wieder aufnehmen dürften. Ein Aufatmen ging durch uns alle.

Einzug

Am 11. April 1956 zog ich mit meiner Familie nach Aldenhoven. Die mitgebrachten und die neu hinzugekauften Möbel (besonders die Schränke) mussten wir etwas von den Wänden abgerückt aufstellen, weil das Wasser noch an den Wänden herunterlief.

Ergebnis

Aldenhoven wurde ab dann meiner Frau und mir zur neuen Heimat.
Für unseren damals zehn Monate alten Sohn, drei noch nachfolgende Kinder, drei Enkelinnen und eine Urenkelin wurde Aldenhoven durch Geburt und Kindheit zur Heimat.

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