Ein Hoca wird Bergmann auf EMIL MAYRISCH

Heinz Bielefeldt

Dieser Text liegt auch in türkischer Sprache vor!

Vor Jahren traf ich Herrn Halis Gümüs, Lehrer im Kreis Aachen für Türkisch- und Islam-Unterricht, auf einer Fortbildungsveranstaltung. Abends kam in einer kleinen Plauderrunde die Frage auf, wann Herr Gümüs als Lehrer nach hier gekommen sei. „Naja, Kollegen“, schmunzelte er, „das war ein zweijähriger Umweg, der über EMIL MAYRISCH führte und von März 1973 bis März 1975 dauerte.“ Unsere Neugier war geweckt und wurde befriedigt durch eine farbige Geschichte - voll von Träumen und Hoffnungen, Rückschlägen und Erfolgen.

Der Erzähler führte uns in seine Heimatstadt Turhal /Tokat, die am Schwarzen Meer etwa 400 km nordöstlich von Ankara liegt. Hier regierte sein Großvater Raif Yazgan Bey als Bürgermeister mit archaischer Autorität, deren Amtssymbol eine alte Pistole war, die er im Gürtel zur Schau trug.

Wir begleiteten Hoca (= Lehrer) Halis zum Dorf Ketenciler Köyü, wo er 1966 seine erste Stelle in einer einklassigen Schule antrat. Zwei Jahre später wurde er zum Schulleiter im Dorf Dorf Kumluköyü ernannt. Im einzigen Schulzimmer unterrichtete er 60 bis 70 Mädchen und Jungen. Wir betraten seine Wohnung, die über dem Klassenraum lag, und lernten seine Frau und die beiden Kinder kennen. Im kahvehane – Kaffeehaus - hockten wir abends bei nargile ve kahve - Wasserpfeife und Mokka - in der Männerrunde. Wir erlebten mit, wie eines Tages ein Dorfbewohner aus Deutschland heimkam, um Urlaub zu machen ...

Ab hier bewegte sich die lange und spannende Antwort auf unsere Frage, seit wann Herr Gümüs Lehrer im Kreis Aachen sei, in Richtung EMIL MAYRISCH. Damals auf der Fortbildungsveranstaltung hatte ich mir vorgenommen, die Geschichte „Halis Gümüs wird Hoca in Deutschland“ aufzuschreiben.

Das Vorhaben geriet zwar in Vergessenheit, nicht aber der interessante Bericht. Er sollte unbedingt zu unserem Projekt „Spurensuche“ gehören, dachte ich, und rief Herrn Gümüs an. Er erinnerte sich an die kollegiale Runde, an unsere Aufmerksamkeit und Wissbegier und war sofort bereit, mir bei der Zusammenstellung seiner Geschichte zu helfen. Deren Kernstück, das mit EMIL MAYRISCH zu tun hat, sei hier nacherzählt.

Tausend Mark und blonde Frauen

„Im Kaffeehaus drängten sich alle um den Heimaturlauber aus dem fernen Deutschland“, berichtet Herr Gümüs. „Wir staunten, wie gut er gekleidet war und wie wohlhabend er sein musste. Er gab dem Wirt einen DM-Schein und spendierte einige Runden Kaffee. Wie gebannt hingen wir an seinen Lippen und lauschten hingerissen, was er über das wunderbare Leben in Deutschland mitzuteilen hatte. Geregelte Arbeit in einer Zeche in Bottrop, guter Lohn – tausend Mark in der Woche... Tausend Mark? Unvorstellbar so eine Summe! Und wenn Feierabend ist, dann warten blonde Frauen vor dem Zechentor. Du zwirbelst nur deinen Schnurrbart, und schon hast du eine hübsche Blondine am Arm.... So ging es stundenlang. Wir konnten nicht genug kriegen von den Erlebnissen in Deutschland....“

Natürlich habe er vermutet, fährt Herr Gümüs fort, dass der Mann ein wenig übertriebe, und doch hätten ihn die Stories fasziniert und in ihm den Plan keimen lassen, nach Deutschland aufzubrechen. Blonde Frauen – das sei nicht sein Interesse gewesen, sagt er lachend, doch tausend Mark pro Woche, das habe sehr verlockend gewirkt. „Aber ich war Lehrer und kein Bergmann. Die Deutschen suchten Bergleute. Was tun? Im Winter 1972 machte ich mich konsequent daran, meinen Plan in die Tat umzusetzen. Ich besorgte mir Fachbücher über den Bergbau, studierte Abend für Abend im Licht der Petroleumlampe geologische und technische Themen und eignete mir im Laufe der Zeit solide Fachkenntnisse an. Die Leute im Dorf erfuhren von meinen Plänen und wünschten mir viel Glück.“

 

Fließend gelesen – Prüfung nicht bestanden

„Eines Tages war es im Jahre 1973 so weit. Anwerber vom EBV waren in der Stadt Balikesir angekommen. Das ganze Dorf und alle Schülerinnen und Schüler versammelten sich an der Moschee, um mich mit Segenswünschen zu verabschieden. Ich ritt auf einem Esel in die Stadt und erkundigte mich nach der Bewerbungsstelle. Viele Männer hatten sich dort eingefunden und warteten geduldig, bis sie an die Reihe kamen.

Schließlich stand ich vor einem großen deutschen Mann mit mächtigem blonden Schnurrbart. Der türkische Dolmetscher forderte mich auf, den Mund zu öffnen. Der große deutsche Mann kontrollierte meine Zähne. Gesund. Er packte meine Oberarme. Kräftig. Dann ergriff er meine Hände, betrachtete die Handflächen und stutzte misstrauisch. Keine Schwielen, keine Risse? Ich spürte, er zweifelte, dass ich ein Bergmann sei. Der Dolmetscher reichte mir eine Zeitung, zeigte auf einen Artikel und wies mich an, ihn vorzulesen. Hier war ich in meinem Element und las fehlerfrei und zügig den Text. Als ich erleichtert aufschaute, sah ich, wie der große deutsche Mann seinen Kopf schüttelte. ,Du bist kein Bergmann‘, erklärte der Dolmetscher. ,Der Nächste!‘ Ich stand wie ein Ochse da und wollte nicht begreifen, dass ich durchgefallen war. Traurig ritt ich nach Hause. Alle im Dorf verstanden meine Enttäuschung.“

 

Ich kann nicht lesen – Prüfung bestanden

„Aufgeben, das kam nicht infrage“, erzählt Herr Gümüs weiter, „ich musste mir eine glaubwürdige Geschichte einfallen lassen.“ Und so sah die Strategie aus, mit der er bei der nächsten Bewerbung erfolgreich war.

Als Herr Gümüs wieder in der Stadt Balikesir vor einer neuen Kommission des EBV stand, gewann er den ersten Plus-Punkt, indem er sich bei der Lese-Prüfung dumm und unfähig verhielt. Als kräftig gebauter „Analphabet“ mit gesundem Gebiss war er körperlich für die Arbeit unter Tage offensichtlich geeignet. Was war mit seinen Händen ohne Schrammen und Schwielen? Wieder fühlte er Misstrauen, das er aber überwinden konnte. Er erklärte dem Dolmetscher: „Ich war im Kali-Bergbau beschäftigt. Vor drei Monaten ist mir gekündigt worden. Seit dem Tag habe ich nicht mehr gearbeitet.“ Niemand fragte nach Kündigungspapieren; man glaubte dem treuherzigen ehemaligen Kali-Bergmann. Zweiter Plus-Punkt.

Halis Gümüs wollte seine beiden Plus-Punkte absichern und bediente sich einer bewährten Methode. „Ich erkundigte mich, wo die Kommission in der Mittagspause zu Tisch ging. Schnell eilte ich zu dem Wirt und beauftragte ihn, die Mitglieder der Kommission mit saftigem Lammbraten, schmackhaftem Reis und gut gewürzten Salaten zu bedienen, den besten Rotwein zu kredenzen, die Mahlzeit mit Raki zu beginnen und mit Kaffee zu beenden. Ich selbst nahm in einer Ecke des Gastzimmers Platz und beobachtete, was am Tisch der Kommission passierte. Bevor jemand eine Bestellung aufgeben konnte, erschien der Wirt und schenkte Raki ein. Die Herren prosteten sich zu. Kaum hatten sie ihre Gläser abgesetzt, goss der Wirt nach und flüsterte, ein Herr gäbe sich die Ehre, die Kommission einladen zu dürfen. Die Männer schauten sich um. Ich erhob mich und verbeugte mich respektvoll. Schon trug der Wirt Lammbraten, Reis und Salate auf und entkorkte eine Flasche Rotwein. Wieder stand ich auf und verbeugte mich. Als die Kommission beim Kaffee angelangt war, verließ ich mit einer letzten Verbeugung das Gasthaus und stellte mich in die Schlange der Bewerber, die auf die abschließende Entscheidung der Kommission warteten.

Der Dolmetscher rief die Namen derer auf, die die Prüfung bestanden und die Zusage für einen Arbeitsplatz im deutschen Bergbau erhalten hatten. ,Gümüs Halis!‘ Ich trat vor und nahm, ohne dass unsere Blicke sich kreuzten, aus den Händen des deutschen Kommissionsmitgliedes meine Papiere entgegen.“

 

Hand auf die Schulter des Vordermannes

Nun schildert Herr Gümüs seine abenteuerliche Reise nach Deutschland. Dass er sie überhaupt hatte antreten können, verdankte er dem Postboten aus der Kreisstadt Dursunbey. „Meine Reiseunterlagen waren nämlich nicht bis in unser Dorf gelangt, sondern lagen in der Kreisstadt. Am nächsten Tag sollte ich zum Sammelpunkt in Istanbul fahren. Von den Problemen ahnte ich nichts. Ich wartete reisefertig auf den Bescheid aus Deutschland.

In der Nacht weckte mich der Aufprall von Steinchen, die jemand gegen das Fenster warf. Ich schaute nach draußen. Da stand der Postbote und rief mit unterdrückter Stimme: ,Hey, Arkadas, Brüderchen, ich bringe dir deine Papier. Du musst sofort aufbrechen und nach Istanbul fahren!‘ Im Nu war ich hellwach. Zugleich geriet ich in Panik. ,Wie soll ich bis morgen nach Istanbul kommen? Unmöglich!‘ Der Postbote beschrieb mir den glücklichen Umstand, der mir noch eine Chance gab: ,Ausnahmsweise hält morgen ganz früh der EGE EXPRESS in Mezitlerköyü. Sieh zu, Brüderchen, dass du noch hinkommst und zusteigen kannst!‘

Ich wollte es einfach nicht glauben: Der EGE EXPRESS, der täglich die Strecke Ankara – Ismir hin und zurück fuhr, sollte in Mezitlerköyü, einem winzigen Dorfbahnhof nahe der Kreisstadt Dursunbey halten? ,Ja, ich weiß es ganz bestimmt. Frag nicht lange‘, drängte der Postbote. ,Um 3 Uhr steht er in Mezitlerköyü. Der Grund ist mir nicht bekannt. Beeile dich, Halis, los, los!‘

Es blieb nicht viel Zeit, mich von Frau und Kindern zu verabschieden. Ich trieb den Esel an. Bloß nicht den Zug verpassen! Endlich! Ich erreichte den kleinen Bahnhof, und wenige Minuten später lief der Schnellzug ein. Ich hatte keine Fahrkarte. Der Schalter war noch geschlossen. Ich rannte zum Lokführer. ,Hey, Arkadas, he, Brüderchen, ich muss unbedingt mitfahren!‘ Als der Lokführer meine Not erfuhr, ließ er mich zu sich in den Führerstand einsteigen. Allah segne den guten Postboten, der auf seinem Esel den weiten Weg bis zu unserem Dorf noch am späten Abend zurück gelegt hatte! Und Allah segne den Lokführer, der mich hatte mitfahren lassen!

So gelang es mir, noch die Sammelstelle in Istanbul zu erreichen. Und ehe ich mich versah, transportierte uns ein Flugzeug nach München. Es war wie im Traum. Vorgestern noch in meinem kleinen Dorf und jetzt in der fremden großen Stadt. Es war bitterkalt. Ein deutscher Mann nahm unsere Gruppe in Empfang und brachte uns mit einem Bus zum Bahnhof. Auf dem Bahnsteig wies er uns an, eine Reihe zu bilden und jeweils die Hand auf die Schulter des Vordermannes zu legen. Wir verstanden nicht, was er sagte, aber begriffen sofort, dass er unsere Gruppe zusammenhalten und keinen von uns verlieren wollte.

Der Zug fuhr nach Westen. Wir waren hungrig und durstig. In Köln hielt der Zug. Auf dem Bahnsteig hatte das Rote Kreuz Kaffee zubereitet, der aus großen Kesseln dampfte. Ich stieg aus, erhielt einen Becher voll Kaffee, probierte ihn, spuckte ihn aus und rief meinen Kameraden zu: ,Bu kahve degil, kapkara pis su. Das ist kein Kaffee, Brüderchen, das ist schwarzes heißes Wasser.‘ Also verzichteten wir auf das fremdartige Getränk. Plötzlich vernahmen wir vertraute Laute. Türkische Kollegen eilte herbei. Alle Getränke-Automaten hatten sie geleert und versorgten uns mit Limo, Cola, Fanta, Sprudel, Sprite. ,Hey bizim kuslar, gelin bakalim, he, ihr Vögelchen‘, riefen sie, ,kommt, trinkt euch satt!‘ Nie wieder hat mir ein Trank so gut geschmeckt wie damals im Kölner Hauptbahnhof.“

 

Ein „Esel“ lernt Deutsch

„Meine lange und doch so schnelle Reise führte von meinem Dorf Kumluköyü nach Aachen. Von hier aus gelangte ich nach Aldenhoven, zum Ortsteil Siersdorf. Ende März 1973 fuhr ich zum ersten Mal auf EMIL MAYRISCH an.“

Die Arbeit unter Tage sei ungewohnt und hart gewesen, erzählt Herr Gümüs. Er habe sich bemüht, den Anweisungen zu folgen. Türkische Kollegen hätten ihm anfangs geholfen, doch Tag für Tag sei er besser zurecht gekommen. „Ehrgeiz und Lob trieben mich an. Der Steiger Debus schien zufrieden mit meiner Arbeit zu sein, und die Männer in unserer Gruppe klopften mir anerkennend auf die Schulter. Ich freute mich auf den ersten Lohn.

Als mir der Buchhalter die Lohntüte aushändigte, zählte ich sofort das Geld nach. Ich war enttäuscht. So wenig nur? ,Ist was?‘ fragte der Buchhalter. Ich wollte protestieren, aber mir fehlten die Worte. Schimpfend wandte ich mich an einen Landsmann: ,Brüderchen, der Lohn stimmt nicht.‘ Der Kumpel prüfte die Zahlung nach. ,Alles in Ordnung, beruhige dich.‘ Aber ich fühlte mich betrogen und verletzt und dachte nicht daran, Ruhe zu geben. ,Tausend Mark pro Woche will ich haben!‘ Inzwischen erregte ich Aufmerksamkeit vor dem Lohnschalter. Der Buchhalter erhob sich. ,Was hat der Mann? Warum motzt der hier rum?‘ Mein Kollege erklärte, dass ich tausend Mark pro Woche erwartet hätte. Bevor der Buchhalter mich vor die Tür setzen konnte, zog mich mein Kamerad nach draußen und erläuterte mir die Regeln zur Berechnung des Lohnes.

Der Heimaturlauber, dieser Aufschneider! Gelogen hat er! Seine Behauptung, es gäbe tausend Mark pro Woche, stimmte ebenso wenig wie seine Angeberei mit deutschen Blondinen. Nie habe ich blonde Frauen vor dem Zechentor gesehen, die verrückt nach türkischen Schnurrbärten waren. Dieser Lügner, sollte der mir einmal über den Weg laufen ....“

So lernte Kumpel Halis eine Menge unter und über Tage und machte Erfahrungen, die wichtig waren, um mit wechselnden Situationen während und nach der Arbeit klar zu kommen. Allerdings war er mit einem Lernprozess nicht zufrieden – mit den Fortschritten in der deutschen Sprache. Sie beschränkten sich auf das Notwendigste, auf Warnhinweise und Arbeitsaufträge – Sprachbrocken bloß. Ein deutscher Kollege machte Halis Gümüs auf Sprachkurse bei der Volkshochschule Aachen aufmerksam.

„Eines Tages verdeutlichte ich mühselig und umständlich dem Steiger meine Bitte, nur noch für die Frühschicht eingeteilt zu werden. Herr Debus war erstaunt. Er fragte nach dem Grund und war einverstanden, als er erfuhr, dass ich regelmäßig abends an Deutsch-Kursen der VHS teilnehmen wollte. Mit dem gleichen Ehrgeiz, mit dem ich vor Kohle meine Leistungen erbrachte, bemühte ich mich auch um die fremde, komplizierte Sprache. Dabei wurde ich auf eine zwar eigenartige, aber erfolgreiche Art und Weise vom Steiger Debus unterstützt.

Sobald er mir unter Tag begegnete, rief er: ,He, Esel, zeig, was du kannst!‘ Er nannte ein Verb – zum Beispiel ,lachen‘, und ich legte mit Konjugieren los: ,Ich lache – du lachst – er, sie, es lacht – wir lachen – ihr lacht – sie lachen.‘ Ein neues Verb kam an die Reihe, und ich konjugierte. ,Gut gemacht, Esel!‘ Ich empfand diese ,Eselsübungen‘ als Herausforderung und bereitete mich intensiv darauf vor. Die Antworten gelangen immer schneller und sicherer, und Steiger Debus schraubte die Ansprüche höher. ,Vergangenheit, Esel, von hören.‘ Los ging’s: ,Ich hörte – du hörtest – er, sie, es hörte – wir hörten - ihr hörtet – sie hörten.‘ Der nächste Auftrag: ,He, Esel, singen.‘ Ich musste meinen Grips anstrengen. Ist das Verb regelmäßig oder unregelmäßig? Eine verdammt schwere Klippe. Unregelmäßige Verben gibt es im Türkischen nicht. Ich versuchte mein Bestes: ,Ich singte – du singtest ....‘ Das lautstarke, gedehnte , E s e l ‘ klang eindeutig nach Tadel und veranlasste mich zur flinken Korrektur. ,Ich sang – du sangst – er, sie, es sang – und so weiter.‘ Und dann die Artikel, die wir in meiner Muttersprache nicht kennen. Der Steiger rief mir Substantive zu: ,He, Esel, Wand.‘ Ich reagierte: ,Die Wand.‘ - ,Haus,‘ ,das Haus‘ – ,Hof,‘ ,der Hof‘ und so fort. Heute noch bin ich Herrn Debus für das Sprach-Training dankbar. Er war mein bester Lehrer und zwang mich durch sein häufiges Examinieren zum fleißigen Pauken. Die Anrede ,Esel‘ habe ich nie als Beleidigung empfunden, sondern als rauhen und herzlichen Sympathiebeweis. Steiger Debus war immer wie ein echter Freund für mich.“

 

Pythagoras im Kohlenstaub

Herr Debus habe manche Situation unter Tage als Gelegenheit genutzt, fährt Herr Gümüs fort, den ausländischen Bergleuten Deutsch beizubringen. Einmal sei er mit einer Frage zu Kumpel Halis gekommen, der an einer Ausbaustrecke in der Sohle 710 m arbeitete. „Hinter den Kronen musste ich die Bleche hineinlegen. Die Frage des Steigers lautete: ,Wieviel Bleche brauchen wir?‘ Und scherzhaft polternd fügte Herr Debus hinzu: ,Ich warte auf deine Antwort, und ist sie falsch, kommt die Kündigung!‘

Das lässt sich doch mit dem pythagoräischen Lehrsatz lösen, dachte ich, trat zur Seite, zeichnete auf der kohlengeschwärzten Ziegelwand ein großes rechtwinkliges Dreieck und zog mit dem Finger über der Hypothenuse und über den beiden Katheten die Quadrate in den Kohlenstaub. Die Diskussion in meinem Rücken verstummte. Ich blickte über die Schulter und sah in erstaunte, interessierte Gesichter.

Als ich dem Steiger die richtige Antwort gab, schüttelte er bedächtig den Kopf. ,Sag mal, Esel, wieso kennst du den Pythagoras?‘ Meine Selbstsicherheit, mit der ich das Problem rechnerisch geklärt hatte, schmolz dahin. Jetzt würde meine Komödie, die ich damals der Kommission vorgegaukelt hatte, entlarvt werden. Wie mag der Steiger das Spielchen bewerten? Als Betrug? Werde ich fristlos entlassen? ,He, Esel, was ist?‘ Des Steigers Stimme durchschnitt mein Grübeln und vertrieb alle Befürchtungen. Meine Selbstsicherheit kehrte zurück. ,Ich bin ein Hoca‘, sagte ich. ,Ein Hoca, ein Hoca – was soll das sein?‘ Herr Debus wurde ungeduldig. ,Hoca, das ist ein Lehrer.‘ Der Steiger lachte: ,Hört, hört, Leute, wir haben einen Lehrer unter uns.‘ Freundlich knuffte er mich in die Seite. Sein Lachen steckte auch meine Kameraden an. Von Betrug und Entlassung war keine Rede.“

 

Das kann nicht der Schulrat sein

Herr Gümüs kommt zum Schluss seiner EMIL MAYRISCH-Geschichte. Das Ende der Arbeit unter Tage sei durch das „Geständnis“, ein Hoca zu sein, eingeleitet worden. Ein deutscher Freund habe ihn ständig zu beeinflussen versucht, sich beim zuständigen Schulrat auf eine Stelle als Lehrer für muttersprachlichen Unterricht im Schulamt für den Kreis Aachen zu bewerben. Sich bei einem Schulrat vorstellen – dagegen sträubten sich Gefühle und Gedanken. „Ein Schulrat in der Türkei“, erläutert Herr Gümüs, „ist eine mit großer Personalgewalt ausgestattete hohe Persönlichkeit, der man sich nur in respektvoller Distanz nähern darf.“ Guten Zuspruchs seines Freundes und eines zweimaligen Anlaufs habe es bedurft, bis er den Schulrat in Aachen aufgesucht habe.

„Mit Herzklopfen wartete ich auf dem Flur. Ich weiß es noch genau: es war Ende Februar 1975. Die Tür öffnete sich, ein freundlicher Mann reichte mir die Hand und lud mich ein, vor ihm den Raum zu betreten. Ich weigerte mich, weil ich befürchtete, es sei ein Falle, um festzustellen, ob ich es wagen würde, vor dem hohen Herrn ins Zimmer zu gehen. Doch der Mann nötigte mich höflich und bestimmt, als erster einzutreten. Ja, er half mir sogar aus dem Mantel und hängte ihn an die Garderobe. Da atmete ich erleichtert auf. Das kann nicht der Schulrat sein. Unmöglich. Ein Schulrat würde mir nicht die Hand geben, mir erst recht nicht den Vortritt lassen und nie und nimmer meinen Mantel annehmen und aufhängen. Nein, das muss ein Untergebener des Schulrates sein, der Sekretär vielleicht.

Ich fiel aus allen Wolken, als der Herr sich vorstellte: ,Ich bin Schulrat Ehl. Was führt Sie zu mir?‘ Nachdem ich meine Sprache wiedergefunden und mein Anliegen vorgetragen hatte, konnte ich ein Bewerbungsformular ausfüllen und mit der Zusage, zum 1. März 1975 in den Schuldienst eingestellt zu werden, nach Hause gehen.“
Seit dem Tag der Unterzeichnung seines Arbeitsvertrages, dem 10. März 1975, ist Herr Gümüs, der inzwischen mit seiner Familie die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, wieder in seinem ursprünglichen Beruf tätig. „Die Jahre im Zweitberuf Bergmann sind unvergessen“, sagt er. „Im Internet habe ich mir eure ,Spurensuche‘ angeschaut. Das Projekt gefällt mir sehr. Unbedingt möchte ich das Bergmannshaus GLÜCK AUF mit den vielen Erinnerungsstücken von EMIL MAYRISCH bald einmal aufsuchen.“

 

 

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Heinz Bielefeldt, Februar 2003

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