EBV-Sozialarbeit auf EMIL MAYRISCH

von Heinz Bielefeldt


Peter Fäsing, Friedrich Müller-Rocholz

Einer fehlte in der Runde, als wir uns im Juni 2002 zusammen setzten, um über Sozialarbeit auf EMIL MAYRISCH zu sprechen. Herr Friedrich Müller-Rocholz, langjähriger Leiter der Sozialabteilung beim EBV, war plötzlich gestorben. "Ich bin für meinen Mann gekommen", wandte sich Frau Müller-Rocholz an mich, "vielleicht kann ich Ihnen Auskünfte geben." Sie packte Fotoalben und Schriftstücke aus.

 


Links Frau Reiss (Casino), rechts Frau Nierich (Nebenheim "Lindenstraße")

"Gesund und vital war Fritz noch voriges Jahr gewesen - beim Treffen am 21. Juli in Siersdorf", sagte Herr Peter Fäsing. Mit bewegten Worten erzählte er von der Überraschung, die ihm ehemalige Bewohner des sogenannten Ledigenheimes zu seinem 80. Geburtstag bereitet hatten: von der Freude, Kumpels von damals wiederzusehen; von der Solidarität, mit der viele Kollegen dem Aufruf von Herrn Gerhard Häusler gefolgt waren (sogar "Sepp aus Bayern", der Verseschmied der Runde, hatte den weiten Weg nicht gescheut); vom Bergbau-Modell, das Herr Erich Schuster als gemeinsames Geschenk hergestellt hatte; von der Laudatio, die Herr Heinz Zehbe gehalten hatte.

Ich schaute mir Fotos vom Ehemaligen-Treffen an. Sie gaben die frohe Stimmung wieder und den erstaunlichen Zusammenhalt nach all den Jahren. "Wie lange waren Sie Leiter des Bergmannsheimes?" fragte ich Herrn Fäsing. "27 Jahre, und keine Stunde möchte ich missen", antwortete er.

 

Seine Frau ergänzte: "Wir waren gern in der Heidgasse, eine schöne, manchmal auch turbulente Zeit." Herr Fäsing nickte. "Es war eine Herausforderung - organisatorisch und menschlich." Die Beziehungen seien gut gewesen, berichtete er, weil nicht das Organisatorische im Vordergrund gestanden habe. Hin und wieder würde er heute noch als Ruheständler von Ehemaligen um Rat gebeten. Er ließ mich einige Rückblicke auf sein Leben sehen: Diplomierter Landwirt auf Rügen - Krieg und jahrelange russische Gefangenschaft. "Hier entstand die Freundschaft zwischen Fritz und mir. Er hat mir die Stelle des Heimleiters vermittelt."


Unterbringung nach dem Krieg

Frau Müller-Rocholz fügte hinzu, ihr Mann sei als ehemaliger Berufsoffizier 1957 aus Russland heimgekehrt und habe die Chance ergriffen, die Sozialabteilung des EBV aufzubauen und zu leiten. "Auch er liebte seine Aufgabe und die mit ihr verbundene menschliche Seite." Schwerpunkte der Sozialarbeit seien Einrichtungen der Werksfürsorge und Lebenshilfe gewesen. An erster Stelle habe die Versorgung der Bergmannsfamilien mit ausreichendem Wohnraum gestanden.


Wenige Jahre später

Ich möchte Näheres über die sozialen Einrichtungen und über das Leben dort erfahren.

"Wie war das in Siersdorf mit dem "Ledigenheim"? Frau Müller-Rocholz blättert in ihren Alben.

Das Bergmannsheim in der Heidgasse, das 1953 errichtet und 40 Jahre später abgerissen wurde, sei mit seinem großen Saalbau das modernste des EBV gewesen, erläuterte Frau Müller-Rocholz. Sie zeigte Bilder des Inneren.

 

Anfangs seien vier Männer in einem Zimmer untergebracht worden, berichtete Herr Fäsing und beschrieb die Einrichtung. Jedes Zimmer habe Einbauschränke gehabt und sei mit Möbeln aus Kiefernholz ausgestattet gewesen. Im Keller hätten sich Duschen und eine Küche befunden. Später habe er für die muslimischen Mitarbeiter dort auch einen Gebetsraum herrichten lassen.

 

 

In den Fluren hätten sich vor den Fenstern gemütliche Sitzgruppen befunden.

"Sieht ja alles sehr ansprechend aus", meinte ich, "aber das Leben im Heim war doch nicht nur Friede - Freude - Eierkuchen - oder?" Herr Fäsing stimmte zu: "Heimweh herrschte und Angst. Es dauerte seine Zeit, bis Kontakte zu den Einheimischen gefunden und vertieft wurden und die Zugewanderten Siersdorf als ‚neue Heimat' annahmen. Viele brachten keine bergmännischen Erfahrungen mit und mussten sich erst an die gefahrvolle Arbeit unter Tage gewöhnen."

Mich interessierte, woher die Leute gekommen seien. Zuerst hätten Deutsche auf EMIL MAYRISCH Arbeit gesucht und gefunden - Vertriebene und Flüchtlinge, auch Bergleute aus dem Saargebiet und anderen Gegenden, in denen es keine Arbeitsplätze mehr gegeben habe, und Familien aus Siebenbürgen/Rumänien. Weil der EBV mehr Arbeitskräfte benötigt habe, seien Ausländer angeworben worden. Die erste Gruppe der sogenannten Gastarbeiter sei aus Italien - vorwiegend aus dem Süden - gekommen. Den Italienern seien Jugoslawen, Spanier, Marokkaner, Koreaner und Türken gefolgt.

 

Und Konflikte? Wenn viele Männer auf engem Raum zusammen leben, seien da nicht erhebliche Schwierigkeiten entstanden? Herr Fäsing betonte, dass die schwere und nicht ungefährliche Arbeit untertage zum Miteinander gezwungen habe. Jeder habe sich auf den anderen verlassen müssen. Dennoch, räumte er ein, seien Probleme aufgetaucht, z.B. durch Alkohol bedingte Schlägereien oder handgreifliche Auseinandersetzungen zwischen ausländischen Gruppen. Meist sei er ohne Polizei mit den kritischen Situationen fertig geworden. Er habe zudem erfolgreich versucht, durch Freizeitaktivitäten die Lage zu entspannen. Sport sei ganz wichtig gewesen. So habe er Tischtennis-Turniere organisiert und eine Fußballmannschaft aufgebaut. "Noch heute bin ich sauer, weil man während meines Urlaubs unsere besten Fußballer abgeworben hatte."

Eine besondere Problemlage - so Herr Fäsing weiter - sei durch Familienzusammenführung entstanden. "Manchmal standen unerwartet Ehefrauen da, hin und wieder mit Kindern. Und dann hieß es, Unterkunft schaffen." Nicht immer habe sofort eine Wohnung zur Verfügung gestanden, und eine vorübergehende Unterbringung in einem Zimmer des Bergmannsheimes oder in einer Notunterkunft sei unausweichlich gewesen. Ich erinnerte mich an die Geschichte von Theodor Ackerts Flucht durch den Eisernen Vorhang - von Thale im Harz nach Siersdorf zu EMIL MAYRISCH. Ich hatte sie im Buch "Bergleute - Menschen und Schicksale beim Eschweiler Bergwerks-Verein" gelesen und dachte an das, was mir Herr Ackert zusätzlich mitgeteilt hatte. Frau und Tochter waren nachgekommen, und die Familie hatte eine notdürftige Unterkunft gefunden. Am ersten Morgen habe seine Frau durchs Fenster geschaut und ausgerufen: "In welcher Wildnis sind wir denn hier gelandet!"

Flüchtlinge aus der damaligen DDR, berichtete Herr Fäsing, seien von Westberlin nach Hamburg oder Hannover ausgeflogen und von dort nach Essen transportiert worden. "Hier habe ich Männer, die auf EMIL MAYRISCH arbeiten wollten, mit dem Auto abgeholt."

"Ja, der Anfang war oft sehr schwer für die Familien", sagte Frau Müller-Rocholz. "Mein Mann hatte mir viele Beispiele mitgeteilt, und ich weiß auch, wie sehr sich die Sozialabteilung um Lebenshilfe bemüht hat." Frau Müller-Rocholz und Herr Fäsing berichteten von eigens angestellten Werkshelferinnen und deren Aufgaben und zeigten mir Fotos über einige Arbeitsbereiche.


Nähstube


Säuglingskurse und Mütterberatung

Zum ersten Mal hörte ich die Bezeichnung "Pestalozzi-Dorf" und erfuhr, dass diese Einrichtung geschaffen worden war, um Berglehrlinge unterzubringen, die aus entfernten Gebieten stammten. "Die Jungen sollten in ausgesuchten Familien eine feste Gemeinschaft finden", erläuterte Frau Müller-Rocholz. "Zu einer Familiengruppe gehör-ten bis zu sechs Lehrlinge." Acht solcher "Pestalozzi-Dörfer" seien gegründet worden, die jeweils unter der Verant-wortung eines "Dorfleiters" gestanden hätten.

"Freizeit- und Ferienaktivitäten gehörten zur Betreuung der Berglehrlinge." Herr Fäsing berichtete von Zeltlagern in der Eifel, zünftig und romantisch.

Von dreiwöchigen Urlaubsaufenthalten an der Nordsee auf der Halbinsel Walcheren war die Rede. "Walcheren!" Frau Müller-Rocholz erinnerte sich, als ihre Familie zum ersten Mal dort Urlaub gemacht hatte. "Mein Mann war so begeistert von der Halbinsel, dass er spontan den Entschluss fasste, hier für die Berglehrlinge Ferien zu ermöglichen." Er habe für Unterbringung gesorgt und für die Sicherheit am Strand ein Team der DLRG verpflichtet.
Gruppen von 60 Berglehrlingen wechselten einander ab.

Kontakte zu den Einheimischen seien gut gewesen, nicht zuletzt deswegen, weil die Jungen den Strand von Unrat gesäubert und stets in Ordnung gehalten hätten.


"Nicht die holländischen Mädchen zu vergessen", schmunzelte Herr Fäsing. "Da flossen Tränen beim Abschied. Doch kaum waren die Heimkehrer verschwunden, warteten die Meisjes schon gespannt auf die neue Gruppe."

Ich erfuhr, dass für die Belegschaft und ihre Angehörigen Urlaubs- und Erholungsreisen angeboten wurden - die letzten nach Mallorca.

 

Einen besonderen Schwerpunkt in unserem Gespräch nahm das Thema "ausländische Mitarbeiter und deren Familien" ein. Dass die Anwerbung sogenannter Gastarbeiter nicht nur über offizielle Stellen und konsularische Vermittlung, sondern auch durch persönliche Beziehungen geschah, war mir neu und wurde mir durch zwei Episoden verdeutlicht.

Frau Müller-Rocholz wusste von Kontakten zu einem im Vatikan tätigen jugoslawischen Monsignore Professor Dragonovic zu berichten. Durch ihn hätten politische Flüchtlinge, die dem Herrschaftsbereich Titos entkommen waren, Unterschlupf im italienischen Udine gefunden. Mosignore Dragonovic habe dem EBV Arbeitskräfte vermittelt, die Herr Müller-Rocholz in Italien mit dem Zug abgeholt habe. "Da spielten sich aufregende Szenen an den Grenzen ab. In den Zug hatten sich oft auch Jugoslawen geschmuggelt, die keine Arbeitserlaubnis besaßen und versuchten, in die Bundesrepublik zu gelangen. Die Zöllner stöberten die Illegalen in den verschiedensten Verstecken auf - in Gepäcknetzen und Toiletten, unter den Sitzen und sogar unter den Waggons."

Zu spanischen "Gastarbeitern" hatte Herr Fäsing auch deshalb ein intensives Vertrauensverhältnis aufbauen können, weil er in einem anderthalbjährigen Intensivkurs Spanisch gelernt hatte und so direkt mit den Menschen kommunizieren konnte. "Als ich mit meiner Familie Urlaub in der Heimatgegend unserer spanischen Mitarbeiter machte, hatte ich Fotos bei mir, die die Männer am Arbeitsplatz, in den Unterkünften und während der Freizeit zeigten. Sie hatten unseren Besuch schriftlich angekündigt, und überall wurden wir herzlich empfangen." Ich fragte nach und erfuhr, dass die fünfwöchige Reise durchs spanische Hinterland auch dienstlichen Charakter hatte, weil sie vertrauensbildend sein und für die Arbeit auf EMIL MAYRISCH werben sollte.

Während Herr Fäsing im Spanischen unmittelbar zurecht kam, war er bei anderen Ausländergruppen auf Dolmetscher angewiesen. Ein entscheidendes Ziel bestand darin, die deutsche Sprache zu vermitteln. Dies war allein schon aus Sicherheitsgründen von hoher Bedeutung. "Ich habe mich fortbilden lassen, um selbst auch Deutsch nach einem eigens für den Bergbau entwickelten Lehrgang zu unterrichten." Abendkurse habe er eingerichtet, die Interessenten nach der Schicht freiwillig hätten besuchen können. Der Zuspruch sei beachtlich gewesen, auch wenn es keine materielle Belohnung gegeben habe. Der Antrieb zum Lernen sei das begehrte D gewesen. Den Buchstaben durfte der am Schutzhelm tragen, der eine Sprachprüfung mit Erfolg abgelegt hatte. "Am Helm ein D", erklärte Herr Fäsing, "das bedeutete, der Mitarbeiter versteht ein basales Deutsch. Er kann Anweisungen begreifen, mit den Kollegen unkomplizierter zusammenarbeiten und sich direkt an den Steiger wenden."

"Deutsche Sprachkenntnisse", ergänzte Frau Müller-Rocholz, "hat mein Mann immer als wesentlichen Integrationsfaktor angesehen. Ich erinnere mich, dass er einmal auf einer deutsch-türkischen Tagung als Referent eine widerspruchsvolle Debatte ausgelöst hat." Ich nahm das Buch "Den Wandel gestalten - 50 Jahre Gemeinsame Sozialarbeit der Konfessionen im Bergbau" zur Hand und las (S. 168) im entsprechenden Tagungsbericht über Schulabschluss und Berufsausbildung für türkische Jugendliche die Forderung von Herrn Müller-Rocholz: "Wer seine Familie in Deutschland hat, ist es seinen Kindern schuldig, sie für ein Leben in Deutschland erziehen und ausbilden zu lassen!" Ich stimmte zu und teilte die Auffassung meiner Gesprächspartner, dass immer noch ein langer Atem und größeres wechselseitiges Bemühen nötig sind, um Fortschritte bei der Integration zu erreichen.

Abgesehen von den Koreanern, die - bis auf wenige Ausnahmen - nach ihrem Dreijahresvertrag in ihre Heimat zurückkehrten, sind viele Menschen aus anderen Ländern hier geblieben - die meisten von ihnen Türken, die nahezu 50% der ausländischen Belegschaft auf EMIL MAYRISCH ausmachten.

Die Frage stand im Raum: Integration unter Tage sei damals gelungen, aber über Tage...? Ich hörte vom Bemühen der Verantwortlichen im Sozialbereich, etwa durch Familienbetreuerinnen in den ausländischen Familien für Sprachangebote der VHS, Besuch von Kindergärten und Silientien zu werben; oder ein Kooperationsnetz zwischen Arbeitsverwaltung und dem EBV-Ausbildungszentrum für ausländische Jugendliche zu knüpfen; oder mit deutschen und ausländischen Gruppen - wie Marokkanischer Freundschaftskreis e.V., Koreanischer Freundschaftsverein "Glück auf" und Jugoslawischer Verein "Bruderschaft und Einigkeit" - Kontakte zu pflegen.

"Ich habe gemeinsame Feste im Casino durchgeführt", berichtete Herr Fäsing, "bei denen jede Volksgruppe etwas Landestypisches darbot. Koreaner zum Beispiel Kampfsport oder Spanier Flamenco." "Sie hatten sich sogar weibliche Tanzkostüme von zu Hause schicken lassen", sagte Frau Fäsing. "Die Folkore-Abende fanden immer lebhafte Zustimmung." Und sie fügte hinzu: "Weihnachten hatten wir jedes Jahr einen großen Tisch. Wir luden Vertreter der ausländischen Mitarbeiter ein, den Heiligen Abend mit uns im Familienkreis zu feiern."

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