»Stolz, ein Bergmann zu sein!«
Heinz Bielefeldt
Eine Grubenfahrt für Besucher – tolle Sache, eine Mixtur aus Abenteuer und Wissensdurst. Grubenfahrten, die ich vor Jahrzehnten auf EMIL MAYRISCH habe mitmachen dürfen, waren spannend und aufschlussreich. Wenn ich vor Ort ein Stück durch den Streb kroch, den vorbei ratternden Hobel beobachtete, den Männern bei der Arbeit zuschaute, dann wuchs meine Hochachtung vor den Bergleuten, vor ihren Belastungen, die sie zu überwinden hatten, und vor ihren Leistungen, die zu erbringen waren. Und das Schicht für Schicht, Tage, Wochen, Monate, Jahre, während die Besuchergruppe nach wenigen Stunden wieder das Tageslicht erblickte und sich in bergmännischer Montur und mit kohlegeschwärzten Gesichtern stolz zum Erinnerungsfoto aufstellte.
Freilich: solche Erkundungen waren bereichernd und vermittelten Einblicke in eine Arbeitswelt, die die Geschichte Aldenhovens nach dem Zweiten Weltkrieg tiefgreifend geprägt hat. Dennoch: wie bruchstückhaft klein waren meine kurzen Erfahrungen unter Tage im Vergleich zur Lebenswirklichkeit der Männer vor Kohle!
Ich höre den alten Kumpels respektvoll und interessiert zu, wenn sie erzählen von „Damals auf EMIL MAYRISCH ....“. Mit einem von ihnen, mit dem über 80jährigen Theodor Ackert, habe ich ein stundenlanges Gespräch geführt. Einiges von dem, was er berichtet hat, soll hier gebündelt wiedergegeben werden.
„Platzangst! Da bin ich gleich wieder ausgefahren“
Ein Büro-Mensch war ich gewesen, bevor ich aus der damaligen DDR nach West-Berlin floh. Was kannte ich vom Bergbau? Nichts. Bergbau, das sei was für ganze Kerle, gutes Geld könne man verdienen und nach der Schicht im Grünen leben ... Das und mehr versprachen die Herren vom EBV, die zu uns ins Flüchtlingslager gekommen waren und Arbeitskräfte anwarben. Auch ich landete auf EMIL MAYRISCH. Mit 22 Mann machten wir uns damals auf in den Westen. Zwei davon sind geblieben; den meisten sagte die Arbeit vor Kohle nicht zu. Mancher hat nicht durchgehalten. Ja, das war schon ein gewaltiger Unterschied zwischen Werbung und Wirklichkeit.
Meine erste Schicht. Ich sollte in einem Streb arbeiten. Als ich durch das kleine Loch kroch, blieb mir die Luft fast weg. Ich geriet in Panik. Platzangst! Da bin ich gleich wieder ausgefahren. In der zweiten Schicht hat mich der Steiger in der Stecke eingesetzt. Später habe ich im Streb am Kohlenausbau gearbeitet, ziemlich bald Fuß fassen können und wurde Ortsältester. Ich war verantwortlich für 25 bis 30 Kollegen, musste die Arbeit einteilen und die Leistungen bewerten.
Platzangst, die hatte ich bald überwunden. Im Gegenteil: Am liebsten arbeitete ich in einem Streb, der bis 1 m hoch war. Im niedrigen Streb fühlte ich mich sicherer. Da war die Bruchgefahr nicht so groß.
Herr
Ackert greift zum Fotoalbum.
Sehen Sie: Um Bruch im Hangenden zu vermeiden, musste der Ausbau – damals noch mit Holz – sorgfältig und solide vorgenommen werden. Ganz wichtig war es, den Wanderpfeiler richtig zu setzen.
Hier sind wir im ausgebauten Streb vor Kohle:
Frage:
Wie konnten Sie in einem niedrigen Streb arbeiten, nicht höher als ein
Tisch?
Im Liegen. Also, das ging folgendermaßen: Der Panzer - ein Fördermittel im Streb - wurde abgeschaltet. Man kletterte über ihn hinweg zur Kohle. Zuerst musste man einen Einbruch machen: ein Loch in die Kohle. Das wurde seitlich zum Nachbarkumpel hin erweitert. Der Abbau muss nämlich immer in gleicher Front geschehen. Wer im niedrigen Streb zu fördern hatte, kroch da rein, brach mit der kleinen Hacke die Kohle und schob sie zurück auf den Panzer. Licht spendete die Stirnlampe.
Auf diesem Foto trage ich eine alte Kübellampe:
„Der Bergmann muss es auch hier haben“
Ich habe nicht nur im Streb geschuftet, sondern auch in der Strecke. Eine richtige Knochenarbeit war das, wenn wir nach dem Schießen die Berge wegräumen und zum Panzer transportieren mussten. Alles mit der Hand.
Frage:
Gewiss haben Sie die technische Entwicklung unter Tage miterlebt?
Na klar, das war schon enorm. Manche Arbeit war jetzt weniger anstrengend. Was früher im Streb 25 bis 30 Kumpel schafften, bewältigten nun drei bis vier Männer. Es wurden durch die Mechanisierung Arbeitskräfte eingespart. Auch die Sicherheit nahm zu, zum Beispiel durch den schreitenden Ausbau. Dabei wurde Holz durch Eisen ersetzt.
Oder
ein anderes Beispiel: der Hobel. Der Kohlenhauer brauchte nun nicht mehr Kohle
zu brechen, er wurde beim Ausbau eingesetzt.
Schauen Sie: Hier legen wir im Streb eine Rutsche an, um uns den Transport der
Berge zum Panzer zu erleichtern. Heutzutage macht das alles der Schrapper. Im
Querschlag auf der Hauptstrecke sind kleine Räumbagger im Einsatz.
Früher sagte man:
„Der Bergmann muss es hier haben“ (Herr Ackert ballt die Fäuste)
– Später hieß es: „Der Bergmann muss es auch hier haben“
(Herr Ackert tippt sich an die Stirn).
Die Mechanisierung unter Tage erfordert anspruchsvolle technische Kenntnisse
und Fertigkeiten. Ja, das war eine harte Zeit unter Tage – und eine interessante.
Herr
Ackert blättert im Fotoalbum
Pause. Die stand uns natürlich zu. Aber manchmal aßen wir unser Butterbrot zwischendurch bei der Arbeit, wenn etwas Dringendes anstand.
Und
nach der Pause hieß es wieder: An die Arbeit! Zum Beispiel Kohle brechen
wie der Hauer auf dem Foto.
Eine Schicht dauerte acht Stunden einschließlich Seilfahrten, Wege vor Ort und zurück.
Schichtende.
Wir warten auf den Zug, der uns zum Hauptschacht bringt. Seilfahrt, Waschkaue,
ab nach Hause, Feierabend!
Trotz aller Maloche –
ich war gern dabei und war und bleibe stolz darauf, ein Bergmann zu sein. Kameradschaft
wurde groß geschrieben, man half sich gegenseitig, stand für den
anderen ein. Man hielt zusammen und wusste: Ich kann mich auf dich verlassen
und du dich auf mich. Das galt für deutsche und ausländische Kumpel
gleichermaßen. Ja, Verlässlichkeit und Kameradschaft waren ungeheuer
wichtig. Trotz des technischen Fortschritts und trotz ständig weiter entwickelter
Standards in der Sicherheit lauern Gefahren tief unten im Berg.
Ich erinnere mich ... Mitte der siebziger Jahre ....
„Gasausbruch!“
Während der Arbeit
im Streb erschreckte mich ein heftiger Knall. Wird in der Strecke geschossen
(gesprengt)? Eine mächtige Staubwolke quoll vorne aus dem Streb. Der Hobelfahrer
brüllte: „Gasausbruch!“ Sofort wurde die Kohleförderung
eingestellt. Der Schichtsteiger eilte zu uns. „Drei Männer verschüttet!“
Er organisierte die Rettungsaktion. Wir bildeten eine Kette, in der die Steine
weitergereicht wurden, die die Mannschaft an der Bruchstelle mit bloßen
Händen wegräumte. Mein Platz war etwa im vorderen Drittel der Reihe.
Schnell, schnell! Jede Sekunde zählte. Wir mussten die Verschütteten
finden und befreien, bevor sie unter dem Gestein erstickten. Endlich! Von vorn
schallten Rufe: „Wir haben einen!“ Der erste war geborgen. Bald
wurde der zweite entdeckt und herausgeholt. Die beiden Männer transportierte
man sofort nach oben. Sie standen unter Schock. Ihre Verletzungen waren Gott
sei Dank nicht lebensbedrohlich. Prellungen und Schrammen.
Der Schichtsteiger telefonierte mit der Grubenwehr: „Wir kommen klar. Zwei sind geborgen. Wir suchen noch den dritten.“ Als wir ihn schließlich fanden, war er tot, erstickt. Georg Artelt aus Waldenburg. Wir beide haben oft über unsere Heimat im Osten geredet, die wir hatten verlassen müssen. Und nun hatte er in der neuen Heimat ein so schreckliches Ende erlitten!
Als Unfallursache stellte sich heraus: Durch Bohren war die Explosion ausgelöst worden. Man war auf Gas gestoßen. Der erhitzte Bohrer hatte das Gas entzündet.
(Frage: Lässt sich
dieses Risiko nicht vermeiden?)
Doch. Man hat
die Erfahrungen beim Tränken genutzt. Ich erkläre es Ihnen. Nachts
wurden Bohrlöcher in die Kohleschichten getrieben, etwa ein Meter tief.
Dort hinein spritzte man mit einem Schlauch Wasser, man tränkte die Kohle,
um die Staubbildung zu hemmen. Um Gaslager aufzuspüren wurden vier Meter
tiefe Löcher gebohrt. Mit der Gaslampe maß man Menge und Dichte des
Gases und sorgte dafür, dass es entweichen konnte.
Wir unterbrechen unser Gespräch, um das Grab des 1974 verunglückten Bergmanns Georg Artelt auf dem Aldenhovener Friedhof zu besuchen.
„Hallo, Meister!"
(Zurück vom Friedhof, fällt mein Blick auf ein Figurenpaar, das Frau Ackert auf den Wohnzimmertisch gestellt hat. Herr Ackert erzählt mir die Geschichte einer guten Zusammenarbeit mit Bergleuten aus Korea auf EMIL MAYRISCH).
Dieses
koreanische Tanzpaar ist ein Geschenk, das einer aus meiner Gruppe wenige Tage
vor der Rückkehr nach Korea meiner Frau und mir gemacht hat. Bai Jung Il
hieß er. Er kam mit einigen seiner Kollegen zu uns nach Hause, um sich
im Auftrag aller koreanischen Gastar-beiter für die gute Behandlung zu
bedanken, welche sie hier in Deutschland erfahren hatten.
Nachdem die Anwerbung von Gastarbeitern aus Europa nachgelassen hatte, kamen Anfang der sechziger Jahre Bergleute aus Korea zu uns. Ein Staatsvertrag, der zwischen der Bundesrepublik und Süd-Korea geschlossen worden war, legte eine Aufenthaltsdauer von drei Jahren fest. Ich war Ortsältester im Streb und hatte acht Koreaner in meiner Schicht. Ich war erstaunt, dass sie die deutsche Sprache einigermaßen gut beherrschten. Wenn Verständigungsschwierigkeiten auftauchten, kamen wir irgendwie mit Englisch zurecht. Es war klar, dass diese Leute eine gute Ausbildung in Sprache und Arbeitsweise erhalten hatten. Bald beobachtete ich, dass die Koreaner arbeitswillig waren. Vor allem waren sie lernbegierig und hilfsbereit. Es war ein gutes Auskommen mit ihnen.
Sie wohnten in den Ledigenheimen Siersdorf und Mariadorf. Manche kochten selbst nach heimatlichen Rezepten. Der intensive Gebrauch von Knoblauch schuf anfangs ein paar Probleme, bis wir lernten, auch Knoblauch zu benutzen. Nie hörte man Klagen über die Kumpels aus dem fernen Asien. Die Koreaner waren bemüht, nicht aufzufallen, Ruhe zu bewahren und einen engen Zusammenhalt in ihrer Gruppe zu bilden. Da ich als Ortsältester für die Leistungsabnahme zuständig war, konnte ich feststellen, dass trotz Krankheit keine Ausfälle zu notieren waren. Die Koreaner steigerten ihre Arbeitsleistungen, um Ausfälle von kranken Kollegen auszugleichen. Ich bin sicher, das hätte niemand sonst getan.
Ja, sie waren sehr gute Arbeitskräfte. Den Vorgesetzten
gegenüber verhielten sie sich respektvoll. Dazu will ich Ihnen ein nettes
Beispiel erzählen: Bei Schichtende unterhielt ich mich auf dem Weg vom
Stapel 530 nach 710, wo wir den Zug kriegen wollten, mit einem Koreaner über
Sport. Er berichtete von Judo und führte zur Demonstration einen entsprechenden
Griff bei mir aus. Die anderen Koreaner glaubten, er hätte mich im Ernst
angegriffen und zu Boden geworfen. Sie fielen über ihn her, um mich zu
verteidigen, und waren ganz erleichtert, als sie erfuhren, dass alles nur Spaß
gewesen war.
Die drei Jahre waren schnell vergangen. Manche Koreaner – so hörte
ich in unseren vielen Gesprächen – wollten nach Amerika, um weitere
Studien zu betreiben.
Aber nicht nur Koreaner waren in meiner Schicht. Italiener und Spanier, gelegentlich auch Portugiesen arbeiteten bei mir. Später kamen Marokkaner und Jugoslawen, und nach dem Weggang der Koreaner gehörten Türken zur Belegschaft. Mit allen bin ich prima klar gekommen. Die hier geblieben sind, haben längst auch das Rentenalter erreicht. Wenn ich durch den Ort gehe, ruft mir manchmal ein alter ausländischer Kumpel über die Straße ein freundliches „Hallo, Meister“ zu.
festgehalten von Heinz Bielefeldt im Januar 2003